Kurz-URL-Dienst bit.ly: Libysche URLs und moralische Bedenken

Dieser //SEIBERT/MEDIA-Artikel ist am 18.12.2009 auch im Online-Magazin Dr. Web erschienen.

URL-Shortener: von tr.im zu bit.ly

Kurz-URL-Dienste sind aus dem Tagesgeschäft bei //SEIBERT/MEDIA nicht mehr wegzudenken. Aus der URL http://seibert.group/blog/2009/10/28/social-software-projekte-woran-die-einfuehrung-von-enterprise-20-tools-scheitern-kann-teil-1 mit ihren 133 Zeichen wird der handliche Link blog.seibert-m....

Die Erstellung dauert wenige Sekunden, Short-URLs werden in E-Mails, in Blog-Artikeln, in Twitter- und Facebook-Postings, in Beiträgen im internen Micro-Blog, in Präsentationen und selbst in Print-Publikationen wie unseren Marketing-Broschüren verwendet. Für die interne wie auch die Kundenkommunikation haben die Mitarbeiter im Consulting-Bereich von //SEIBERT/MEDIA zumeist den Dienst tr.im genutzt, der durch seine konkurrenzlos kurzen URLs und seine einfache Handhabung besticht.

Eine Nachricht hat unsere eifrigen tr.im-User jedoch im Sommer 2009 mit Sorge erfüllt: tr.im gibt auf, hieß es. Was würde das bedeuten? Sämtliche Short-URLs, die mit diesem Dienst generiert worden sind, würden von einem Tag auf den anderen ins Leere führen. Höchste Zeit, sich nach zukunftsfähigen Alternativen umzusehen.

Da kürzlich Twitter tinyurl.com durch bit.ly als URL-Shortener ersetzt hat, bietet sich dieser Dienst an: Die URLs sind einen Hauch länger als die mit tr.im erstellten, aber die Twitter-Integration und auch das praktikable Handling sind überzeugende Argumente. Also sollte fortan möglichst bit.ly genutzt werden, nicht zuletzt, um eine möglichst homogene Kommunikation nach innen wie nach außen sicherzustellen.

Das Problem mit bit.ly: zwei Buchstaben

Doch halt – .ly? Diese Domain-Endung steht für Libyen – und wir damit vor einem kleinen Problem. Wenn wir einen Moment darüber nachdenken, drängen sich nämlich Fragen auf: Kann man guten Gewissens die Nutzung eines Dienstes vertreten, von dem Libyen – in welcher Form auch immer – profitiert? Konkret: Ist dies mit unseren moralischen Vorstellungen vereinbar?

© 10b travelling (Flickr.com)Weltpolitisch macht Libyen in den letzten Monaten seinem zweifelhaften Ruf als unberechenbarer Partner einmal mehr alle Ehre. Leidtragende ist derzeit die Schweiz, die sich einer grotesken Kampagne gegenübersieht, die inzwischen in eine handfeste diplomatische Krise ausgeufert ist. (Auslöser des Konflikts war die vorübergehende Festnahme des Gaddafi-Sohns Hannibal wegen einer Prügelei in einem Genfer Hotel.)

Noch ernstzunehmender und tragischer ist die innenpolitische Lage in Libyen: Die Verfolgung politisch Engagierter ist, wie Amnesty International feststellt, an der Tagesordnung, immer wieder wird einerseits von Schauprozessen gegen Oppositionelle und andererseits von langjährigen Inhaftierungen ganz ohne Anklage berichtet, in Gefängnissen wird gefoltert, für vergleichsweise geringfügige Delikte drohen archaische körperliche Strafen, die Bevölkerung ächzt unter dem Sicherheitsapparat mit seinem Netzwerk aus Spitzeln. Die Menschenrechtssituation in Libyen ist offensichtlich also nach wie vor sehr problematisch. (Weitere ausführliche Informationen stehen auf der Website von Amnesty International zur Verfügung.)

Libysche URLs salonfähig machen: moralisch vertretbar?

Nun ist bit.ly natürlich kein libyscher Dienst, und es geht auch nicht darum, dass Libyen sich eine goldene Nase verdienen würde: Das ist höchstwahrscheinlich nicht der Fall, denn es handelt sich ja lediglich um eine Domain, die in Libyen 75 US-Dollar kostet. Und gewiss eignet sich die Endung -ly ganz wunderbar für „sprechende“ URLs wie short.ly, simp.ly oder eben bit.ly.

Vielmehr steht das Problem im Raum, dass durch die millionenfache Nutzung libysche URLs „salonfähig“ gemacht werden. Ist das moralisch vertretbar? Kann man das zweifelhafte außenpolitische Gebaren und die vielen menschenrechtlich bedenklichen Vorfälle einfach missachten, nur um eine kurze URL zu erhalten? Sollte man diese Endungen nicht besser boykottieren, anstatt sie millionenfach zu publizieren?

Wie erwähnt hat gerade Twitter tinyurl.com durch bit.ly als Short-URL-Dienst ersetzt. Ist das unter moralischen Gesichtspunkten haltbar? Schließlich gibt es viele andere Anbieter, die ähnliches leisten. Wieso also ausgerechnet Libyen?

Neben den moralischen Bedenken besteht zudem eine Gefahr ganz praktischer Natur: Libyen hat nach wie vor die Hoheit über die Domain. Wenn Libyen es (aus welchem Grund auch immer) möchte, kann es dem Anbieter die URL bit.ly morgen wieder wegnehmen. Millionen toter Links wären die Folge. Wie ernstzunehmen ist diese Gefahr?

Aus zwei unscheinbaren Buchstaben ergeben sich also viele Fragen. Denken wir noch einen Schritt weiter: An welchem Punkt würden wir denn „Halt!“ sagen? Würden wir hypothetische Dienste namens ea.sy, one.mm oder fa.ir nutzen, um Links zu verkürzen? (Diese Domain-Endungen stehen für Syrien, Myanmar, das ehemalige Birma, und den Iran, drei waschechte „Schurkenstaaten“, wenn man so will.)

Kann man sich im Tagesgeschäft moralische Bedenken leisten?

Natürlich kann dieses Thema nicht ausführlich besprochen werden, ohne Gegenfragen zu stellen: Nimmt man im grenzenlosen Web auf Aspekte wie die eben beschriebenen keine Rücksicht? Ist es im Tagesgeschäft nicht unsere Aufgabe, Bewertungen auf politischer Ebene vorzunehmen? Ja, kämen wir, selbst wenn wir wollten, überhaupt um bit.ly herum, wenn alle Welt es nutzt?

Oder resultieren diese Bedenken womöglich aus einer übertriebenen politischen Korrektheit? Denn andererseits hat Libyen am 15. September 2009 turnusmäßig den Vorsitz der UNO-Generalversammlung für ein Jahr übernommen. In der Staatengemeinschaft nimmt der Gaddafi-Staat einen festen Platz ein und genießt offenbar zwar wenig Vertrauen, aber doch weitgehend uneingeschränkte Anerkennung.

Freunde von tr.im sind aus dieser Zwickmühle indes durch die Nachricht befreit worden, dass der Dienst von einer Community weitergeführt und auch über 2010 hinaus existieren wird, und das sogar als Open-Source-Anwendung. Und wer bit.ly als Domain doof findet, kann alle bit.ly-Links auch in j.mp-Links umwandeln. Diese deutlich kürzere Domain besitzt bit.ly auch. Doch die Fragen bleiben:

Zählen im grenzenlosen Web und insbesondere im Tagegeschäft allein praktische Erwägungen? Oder darf (bzw. muss?) man sich Überlegungen auch auf einer anderen Ebene leisten?

Wie sehen Sie das? Vielleicht gibt es noch weitere Aspekte, die hier berücksichtigt werden sollten? Bitte nutzen Sie gerne das Kommentarfeld unten für Ihre Anmerkungen.

Weiterführende Informationen

Kurz-URL-Dienste: nützlich und riskant
Warum nur? bit.ly erhält Zuspruch von Google und Co., formiert Allianz mit Yfrog
So funktioniert bit.ly: URLs kürzen, Klickstatistiken inklusive


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6 thoughts on “Kurz-URL-Dienst bit.ly: Libysche URLs und moralische Bedenken”

  1. Sicher ein Thema über das man sich im Web zu wenig Gedanken macht. Als bewußter Internetuser und gefühlter Weltbürger sollte man politisch korrekt besser auf .ly verzichten.

    Ganz verhindern kann man das Offline-Problem eines URL-Kürzungsdienstes sicher nur mit dem Einsatz eines eigenen Dienstes – auch wenn die Domain dann etwas länger ist, hat man auch noch echte Backlinks 😉

    PS: Fein, das man euren Blog dank WPtouch prima auf dem iPhone lesen kann.

  2. Worum geht es hier eigentlich? Um Moral oder um die schlichte Furcht vor toten Links und erzürnten Usern?

    Mir erscheinen die “moralischen” Bedenken nur vorgeschoben. Das Problem der Kurz-URL-Dienste ist immer das Gleiche, egal welche TLD benutzt wird. Der eine Dienst wird verkauft und abgeschaltet, dem nächsten gehen die Festplatten kaputt, der nächste gibt einfach nur auf. Ganz egal. Deshalb sollte man meiner Ansicht nach diese Dienste erst gar nicht benutzen.

    Dass es sich hier nun gerade um Libyen handelt ist für das Gutmenschgebaren gerade nützlich, aber ehrlich: kaum jemand nimmt wahr, dass .ly ja eine Länderdomain ist und noch weniger interessiert das überhaupt. Es ist auch gar nicht relevant, denn ernsthaft mit Themen wie bspw. den Menschenrechten, Pressefreiheit, Todesstrafe, Klimaschutz etc sollte man sich dann doch lieber sinnvoll und an anderer Stelle beschäftigen. Als politisch korrekter Internetuser kann man viel bewegen, wenn man nur will. Ein Boykott von .ly ist da geradezu lächerlich …

  3. Hi Manuel,

    die Intention des Artikels ist tatsächlich zuerst der moralische Aspekt und der Hintergrund, dass libysche URLs quasi “hoffähig” gemacht werden und von Millionen Leuten genutzt werden.

    Sicherlich und verständlicherweise sind für viele Leute Kurz-URLs verzichtbar und der Nutzwert überschaubar. Aber z.B. im Rahmen von Marketing-Aktivitäten via Twitter sind URL-Shortener unverzichtbar. Und ja: Kein Kurz-URL-Dienst bietet die absolute Sicherheit. Aber gerade Twitter nutzt nun bit.ly als Standard-Shortener. Ist das völlig egal oder denkt man mal darüber nach? Wären iranische oder birmesische URLs auch okay?

    Der Artikel ist eben nicht als Appell zu verstehen, bit.ly zu boykottieren, sondern vielmehr als ganz offene Frage, die man so oder so beantworten kann, bzw. als Denkanstoß, mit dem man sich auseinandersetzen kann oder halt nicht. Gerade *weil* die wenigsten Leute wahrnehmen, zu welchem Land die Top-Level-Domain gehört, kann man doch mal darauf aufmerksam machen.

    Ich nutze jedenfalls bit.ly tatsächlich nicht mehr, seitdem ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe 😉

  4. Hallo Matthias,

    auf die Idee, Google nicht zu benutzen weil die den Chinesen bei der staatlichen Zensur helfen / halfen kam komischerweise niemand. Das ist kein Argument, aber doch meines Erachtens ein wesentlich größerer Aufreger und Nachdenker als eine libysche TLD. 😉

  5. Über moralische Bedenken kann man sich streiten. Ich finde sie nicht unwichtig, will darauf aber nicht näher eingehen. Aber das Argument, daß Libyen aus politischen Gründen dem Dienst den URL wegnehmen und so riesige Mengen von Daten mit einem Schlag unbrauchbar machen und in Datenmüll verwandeln könnte, finde ich hochgradig relevant und sollte bei der Benutzung des Dienstes bedacht werden.

  6. Sehr spannend: Rund 9 Monate nach diesem Artikel hat Lybien einen Kurz-URL-Dienst “zensiert”, der wie Twitter (bit.ly) auf die Endung .ly gesetzt hatte. In diesem Blogartikel http://seibert.biz/ly beschreibt der erotische Kurz-URL-Dienst vb.ly von “Violet Blue” den gesamten Vorgang. Gerade auf diesen Aspekt des gesamten Datenverlustes hatte bereits Herr Schestag in seinem Kommentar vom Januar aufmerksam gemacht. -> Hellseher 🙂

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