Die Flexibilität des Modells der vier Kompetenzstufen

Nach Jahrzehnten in der Vergessenheit ist ein altes Modell wieder aufgetaucht, das uns hilft, mit Herausforderungen im Entwicklungs- und Design-Prozess fertigzuwerden. In den 70ern hat der Psychologe Noel Burch beschrieben, wie wir Fähigkeiten aufbauen und perfektionieren, und das Bewusstsein-Kompetenzerwerb-Modell formuliert. Lange Jahre war es in der Versenkung verschwunden, um nun als mächtiges Werkzeug für Entwicklungsteams wieder an die Oberfläche zu kommen.

Das faszinierend einfache Modell mit seinen vier Stadien beschreibt den Weg, den eine Person von der Ignoranz zur Meisterschaft durchläuft:

Stadium 1: Unbewusste Inkompetenz

Hier startet unsere Person. Was sie zu tun versucht, macht sie ziemlich schlecht; allerdings hat sie keine Ahnung, wie schlecht sie ist. Tatsächlich denken unbewusst inkompetente Personen in vielen Fällen, dass sie sich ziemlich gut anstellen würden, und das steht der Verbesserung entgegen.

Stadium 2: Bewusste Inkompetenz

Unsere Person hat nun mitbekommen, dass viel mehr nötig ist, um das Ziel zu erreichen, als sie versucht hat und kann; und sie weiß nicht wirklich, was sie sich eigentlich dabei gedacht hat. In diesem Stadium wird die bewusst inkompetente Person von der Einsicht überwältigt, dass es mit dem vermeintlich enormen Wissen in Wahrheit nicht weit her ist.

Stadium 3: Bewusste Kompetenz

In diesem Stadium hat unsere Person überwunden, dass sie nichts weiß, und der Lernprozess hat eingesetzt. Die bewusst kompetente Person erledigt ihre Aufgaben mit wesentlich mehr Erfolg, aber Aufmerksamkeit und Konzentration gehen stark zulasten der Geschwindigkeit.

Stadium 4: Unbewusste Kompetenz

Im letzten Stadium hat unsere Person all das nötige Wissen verinnerlicht und kann es anwenden, ohne aktiv daran zu denken und sich zu konzentrieren. Die unbewusst kompetente Person erledigt die Aufgaben anmutig und schnell.

Diese theoretische Beschreibung des Fähigkeits- und Wissenserwerbs hat viele konkrete Anwendungsfälle im UX- und Design-Umfeld. Tatsächlich wird es inzwischen so oft erwähnt, dass wir manchmal Lust haben, daraus eine Art Trinkspiel zu machen.

Jedenfalls ist dieses Modell eine fabelhafte Lupe, die uns tiefe Einblicke in mehrere Dimensionen unserer Entwicklungs- und Design-Arbeit eröffnet. Es hilft uns zu verstehen, was wir über die Nutzer wissen, welche Zusammenhänge zwischen den Usern und ihren Zielen bestehen und wie intelligente Oberflächen funktionieren. Es hilft uns, unsere Fähigkeiten zu verbessern. Nicht viele Modelle bieten so viel Flexibilität.

Anwendung des Modells auf unser Wissen über die Nutzer

Ein naheliegender Anwendungsfall dieses Modells besteht darin zu erklären, wie gut wir unsere Nutzer kennen. Mithilfe der vier Stadien lässt sich sehr hübsch zeigen, wie gut wir die Leute verstehen, für die wir entwickeln.

Viele Teams fangen unbewusst inkompetent an, sie wissen kaum etwas über ihre Nutzer, glauben aber das Gegenteil. Sie treffen Entscheidungen – und ahnen zumeist nicht, dass es ihnen an Wissen mangelt –, die sich zwangsläufig negativ auswirken. Fehlendes Feedback führt dazu, dass sie die User und damit auch die Schwächen ihrer Anwendung ignorieren.

Irgendwann ist jedoch der Punkt erreicht, an dem Feedback eingeht. Jetzt erkennen die Teams, dass sie nicht viel darüber wissen, wer ihre Nutzer sind und was diese erreichen wollen. Die Welle der Realität bricht über sie herein und sie sehen, wie schlecht ihre Anwendung in Wirklichkeit ist. Allerdings sind sie sich nicht sicher, wie man es besser machen könnte. Sie haben die bewusste Inkompetenz erreicht.

Wenn Teams nun analysieren, was passiert ist, fangen sie an, Strategien auszuarbeiten und Verständnis aufzubauen. Nach einer Weile erreichen ihre Ergebnisse die Stufe der bewussten Kompetenz. Jedes neue Problem wird zu einem Abenteuer und es kommt zu vielen Lernerlebnissen, die oft anregend sind und Spaß machen.

Mit zunehmender Erfahrung lernen sie schließlich, nicht nur die eher gewöhnlichen und unkomplizierten Fälle schnell und einfach zu lösen. Design-Muster und ein tiefes Verständnis über die Nutzer führen zu unbewusster Kompetenz: Die Teams durchlaufen den Entwicklungsprozess flüssig und schaffen rasch Lösungen.

Anwendung des Modells auf die Ziele der Nutzer

Halten wir die Lupe nun in die entgegengesetzte Richtung, sehen wir die Ansätze der User, ihre Ziele mit der Oberfläche zu erreichen, die wir ihnen präsentieren. Nehmen wir beispielsweise die Inhaber eines kleinen Geschäfts, etwa einer Rechtsanwaltskanzlei, die versuchen, ihre Buchhaltung und ihre Mandantenabrechnungen in den Griff zu bekommen.

Diese Anwälte kennen sich in Rechtsfragen prima aus, starten ihre Firma aber mit wenig bis gar keinem Business-Wissen. Geht es dann darum, Einnahmen, Ausgaben und Rechnungen zu verwalten, machen sie viel falsch, ohne es mitzubekommen. In diesen Verwaltungsfragen sind sie unbewusst inkompetent.

Wenn sie früher oder später auf ihre Fehler aufmerksam werden (vielleicht durch verärgerte Klienten oder einen frustrierten Steuerberater), wird ihnen klar, dass sie etwas ändern müssen, nur wissen sie leider nicht, was genau zu tun ist. Sie sind bewusst inkompetent in Sachen Buchhaltung.

Mit etwas Online-Recherche sowie durch die Hilfe von Experten und anderen Kollegen erlernen sie das Basiswissen und erlangen bewusste Kompetenz. Sie wissen jedoch nur, wie man die grundlegenden, häufig anstehenden Aufgaben erledigt. Alles, was über das Gewöhnliche hinausgeht, macht ihnen nach wie vor schwer zu schaffen.

Nach vielen Jahren Geschäftserfahrung endlich läuft die Buchhaltung wie von allein, selbst wenn ungewöhnliche Grenzprobleme zu lösen sind. Sie denken nicht viel darüber nach, sie sind unbewusst kompetent und damit die ganze Strecke erfolgreich entlangmarschiert.

Anwendung des Modells auf den Lernprozess des UX-Teams

Wenn wir mit Kunden daran arbeiten, ihre Entwicklungsteams zu verbessern, erklären wir anhand des Vier-Stufen-Modells, an welchem Punkt sich die Teammitglieder gerade befinden.

Die Teammitglieder, die noch nie über User Experience und Design nachgedacht haben, sind unbewusst inkompetent.

Diejenigen, für die UX und Design Neuland sind und die zwar wissen, dass beides wichtig ist, aber keine rechte Ahnung haben, wie man tolle Oberflächen entwickelt, sind bewusst inkompetent.

Dann gibt es die Teammitglieder, die sich mit den wichtigen Grundlagen auskennen, aber über jeden Entwicklungsschritt gründlich nachdenken müssen. Sie sind bewusst kompetent.

Schließlich gibt es die erfahrenen UX-Experten und Designer, die alle Techniken und Fähigkeiten beherrschen und kontinuierlich demonstrieren, wie einfach es eigentlich ist, tolle Ergebnisse abzuliefern. Sie sind die unbewusst kompetenten Leute.

Anwendung des Modells auf intelligente Oberflächen

Nun wollen wir sehen, wie wir das Modell auf unsere Entwicklungen anwenden können. Stellen wir uns vor, wir arbeiten an einem Formularfeld zur Eingabe einer Telefonnummer.

Eine unbewusst inkompetente Möglichkeit, das Feld umzusetzen, bestünde darin, alle Zeichen ohne jede Validierung zu akzeptieren. Der Nutzer könnte "ABCDE" tippen und die Anwendung würde dies ohne Murren akzeptieren, obwohl die Eingabe irgendwann Probleme verursachen wird.

Bei einer bewusst inkompetenten Implementierung würden wir die Anwendung eine unverständliche Fehlermeldung wie "EINGABEFEHLER" ausgeben lassen, die dem Nutzer nicht erklärt, was los ist und was er stattdessen tun soll.

Ein mit bewusster Kompetenz entwickeltes Feld könnte dem Nutzer sagen, dass die Telefonnummer nur aus Ziffern und gegebenenfalls einem Plus-Zeichen bestehen darf und dass er alle Leerzeichen und Bindestriche entfernen muss.

Die ideale Implementierung würde unbewusste Kompetenz widerspiegeln, indem der Dialog alle Formate von Telefonnummern akzeptiert, intelligent interpretiert, ob es sich um eine internationale oder um eine Nummer im US-Format handelt, und die Nummer anschließend akkurat darstellt. Der Nutzer müsste nicht groß darüber nachdenken, was er eintippt, solange es sich für ihn richtig anfühlt.

Die Vorteile des Modells der vier Kompetenzstufen nutzen

Dieses großartige Modell zeigt uns einen Weg auf, um mit unseren Teamkollegen auf einer ganz neuen Ebene über die Oberflächen zu sprechen, die wir gemeinsam entwickeln. Es hilft uns zu sehen, wo wir uns befinden und wohin wir wollen.

Beispielsweise können wir unterschiedliche Strategien implementieren, um jeden Nutzer von seiner Kompetenzstufe abzuholen. Wir können Usern, die derzeit unbewusst inkompetent sind, helfen, die Auswirkungen ihrer Aktionen zu verstehen. Wir können bewusst inkompetenten Nutzern Strategien aufzeigen, wie sie ihre Ziele erreichen. Wir können Werkzeuge zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe die User sicher werden und unbewusste Kompetenz erlangen.

Dasselbe können wir mit unseren eigenen Teams tun und analysieren, wo welche Verbesserungen nötig sind. Dank dieses Modells sehen wir, welches das nächste Level auf dem Weg zur Perfektion ist. Und es unterstützt uns, dieses Level zu erreichen.

Noel Burch war einer großen Sache auf der Spur. Hätte er doch noch erleben können, wie wertvoll seine Theorie tatsächlich ist.

Dieser Artikel wurde im Original am 16. November 2011 unter dem Titel The Flexibility of the Four Stages of Competence von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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