„Die haben mich angeheuert, damit ich leicht zu bedienende Anwendungen erstelle, und jetzt lassen sie mich nicht.“
Der junge Mann war frustriert und hatte auch allen Grund dazu. Als das Unternehmen ihn einstellte, hieß es, großartige, nutzerfreundliche Anwendungen hätten höchste Priorität. Doch bald hieß es bei jedem seiner Optimierungsvorschläge: „Noch nicht!“, „Nicht jetzt!“ oder „Das machen wir, wenn das erste Release draußen ist!“ Dieses erste Release würde aber, das war absehbar, überaus kompliziert und schlecht bedienbar sein, und unserem Freund drängte sich der Verdacht auf, er würde sein Talent hier völlig vergeuden.
Der Einfluss des Marktes auf den Entwicklungsprozess
Nun wäre es einfach, die Ablehnung seiner guten Ideen auf falsch gesetzte Management-Prioritäten zu schieben. Leider sind es meistens gerade vernünftig gesetzte Prioritäten, die ordentliche, frühe Nutzererfahrungen verhindern. Und zwar, weil der Markt dafür noch nicht bereit ist.
In den frühen 90er Jahren gewannen Konzeption und Bedienfreundlichkeit an Bedeutung. Aus guten konzeptionellen Vorarbeiten gingen durchdachte Produkte hervor, an denen die Verbraucher ihre Freude hatten, die sie prima bedienen konnten und die ihnen Zeit ersparten. Und ein Produkt, mit dem die Leute tolle Erfahrungen machten, war auch am Markt erfolgreich.
Trotzdem wären wir auf große Widerstände gestoßen, wenn wir versucht hätten, mit den Teams an ihren frühen Neuentwicklungen und Ideen zu arbeiten. Wir hätten Lippenbekenntnisse zu hören bekommen, dass sie ja gar nichts anderes vorhätten, als wundervolle Nutzererlebnisse zu produzieren, und hätten schnell erkennen müssen, dass ihr Fokus auf ganz anderen Sachen läge. Es wäre uns nicht gelungen, wirklich gehört zu werden.
Also sahen wir uns erst einmal die anderen Faktoren an. Gab es Umstände, die Teams daran hinderten, sich auf den Bedienkomfort zu konzentrieren? Wir beschäftigten uns mit der Entwicklungsgeschichte dutzender Produkte, vom Text-Computer bis zum medizinischen Gerät, und stellten in der Tat fest, dass sich ein Muster abzeichnete – die Nutzerfreundlichkeit spielt erst eine Rolle, wenn der Markt reif dafür ist.
Die Reifestadien des Markets
Wir nahmen uns damals diejenigen Produkte vor, denen der Ruf vorauseilte, dass sie gut funktionierten und einfach zu bedienen waren. Diese Produkte stachen aus der Masse aus weitaus komplizierteren, funktionell überladenen Konkurrenten heraus. Alsbald erkannten wir, dass das Erfolgsrezept in der Vereinfachung besteht, also darin, eine erfolgskritische Funktionalität leichter bedienbar als bisher zu machen.
Aber noch etwas fiel uns auf: Keines dieser tollen Produkte war das erste jemals produzierte, das diesen bestimmten Zweck erfüllte; von keinem konnte man sagen: Mit diesem Produkt kann man erstmals das oder das bewerkstelligen. Es schien, als ob die früheren Generationen mit ihrer aufgeblähten Funktionalität nötig waren, um bessere und besser bedienbare Sachen zu entwickeln.
Wir machten weiter und erkannten bald ein bestimmtes Muster, das dem ganzen Prozess zugrunde liegt: Jedes Produkt durchläuft vier Stadien. Einige durchsprinten diese Stadien, andere brauchen Jahre, aber jedes Produkt reift über kurz oder lang und erreicht irgendwann das nächste Stadium.
Die externe Kraft war und ist der Kunde – die Person, die die Kaufentscheidung trifft. Der Kunde bestimmt die momentanen Stadien der Produkte, die in ihrer Kategorie konkurrieren. Ausschließlich die Leute entscheiden, wie viel Frustration und Missmut sie zulassen und aushalten. Ihre Toleranzschwelle ist zunächst hoch, aber sie sinkt rapide, wenn der Markt reift und Konkurrenten mit Produkten aufwarten, die weitaus bessere Nutzererlebnisse versprechen.
Heute – 15 Jahre später – hat sich daran nicht viel geändert. Ob Handys, Navigationsgeräte, Buchhaltungs-Software oder Mapping-Services, alle haben die vier Stufen genommen. Wenn sich eine Produktkategorie weiterentwickelt, verlangt es den Kunden nach einer neuen Erfahrung. Die Hersteller reagieren mit einer Weiterentwicklung, der Markt reift.
Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass dieses Muster für Websites nicht zutrifft, schließlich bezahlen die meisten Leute nichts für die Web-Angebote, die sie nutzen. Schnell haben wir aber festgestellt, dass Geld, das Nutzer zahlen, sicherlich nicht ausreicht, um den Wert einer Website abzubilden. Die Währung des Internets ist die Aufmerksamkeit des Users. Und die Websites konkurrieren im Kampf um die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Nutzers. So setzt sich das Muster fort.
Stadium 1: Die Technologie ist die Schmerzen wert
Wenn ein neues Produkt am Markt auftaucht, eines, das die Welt nie zuvor gesehen hat, legen die Leute eine beachtliche Toleranz an den Tag, wenn es um mangelhafte Usability geht. Tja, wenn die Technologie wirklich etwas bringt, muss man sie so nehmen, wie sie ist, ob sie nun einfach zu nutzen ist oder nicht.
Das sehen wir bei jedem First-Generation-Produkt: Die Bedienung ist erst einmal plump bis ärgerlich, aber sobald die Hersteller sehen, dass die Leute das Produkt nützlich finden, bemühen sie sich, es zu verbessern.
In diesem Stadium kommt es darauf an, dass der Kunde sich für etwas entscheidet, weil es für ihn sinnvoll ist. Hier spielt der Bedienkomfort zunächst keine Rolle. Was soll man tun, wen man keine Wahl hat?
Eine Überfahrt auf der Website der Cross Sound Ferry zu buchen, die Besucher nach Long Island bringt, ist für viele Reisende frustrierend. Viele Benutzer brauchen mehrere Versuche und einige können den Buchungsvorgang nicht abschließen, ohne das Ticketbüro anzurufen. Dennoch ist die Seite seit mehreren Jahren unverändert.
Die Überarbeitung der Website würde die Firma, deren Kernkompetenz die Schifffahrt ist und nicht die Website-Entwicklung, sicher einiges kosten. Aber warum sollten sie das tun? Da die Kunden wirklich keine andere Wahl haben, als mit der Cross Sound Ferry nach Long Island zu gelangen, ist der Anreiz für eine solche Investition ziemlich gering, auch wenn jeder zustimmen würde, dass die Zeit reif für einen Relaunch ist.
Auch Intranet-Software steckt häufig in diesem Stadium fest. Weil die Angestellten keine Alternativen haben, müssen sie die vorhandene Software eben nutzen, um ihre Arbeit vernünftig zu erledigen. Viele Unternehmen reizen kostspielige Veränderungen nicht sonderlich, solange es auch so funktioniert.
Entwicklung im ersten Stadium: Schifffahrt und Kunden-Center
Im „Technologie-Stadium“ befinden sich Anwendungen, die den Wettbewerb noch nicht fürchten müssen oder die die Leute mangels Alternativen nutzen müssen. Hier ist es sehr schwierig, die Verantwortlichen für Verbesserungsmaßnahmen zu begeistern: Es sind Investitionen erforderlich, ohne dass im Vorfeld ersichtlich ist, welchen Nutzen das Unternehmen von diesem zusätzlichen Aufwand haben wird.
In diesem Stadium kommt es darauf an, nicht stillzustehen, nachdem die Software gelauncht ist. Es ist sehr ratsam, weiter zu investieren und vor allem zu evaluieren, welche Features überflüssig sind und bloß Geld kosten, weil niemand sie nutzt.
Wer hier die Nutzer genau beobachtet, kann zielgerichtet die dünnen Bretter verstärken und so die Anrufe beim Kundenservice reduzieren. In vielen Unternehmen bedeutet dies, dass das Kern-Team sich nach Unterstützung umsehen und aktiv für eine einfach zu bedienende Anwendung werben muss.
Viele Konzeptioner halten es nicht lange in Stadium 1 aus. Sie empfinden den Widerstand gegenüber Verbesserungen als sehr frustrierend. An der Situation ist nicht wirklich das Unternehmen schuld, aber für einen talentierten Entwickler ist die ganze Sache weder lustig noch eine besondere Herausforderung (jedenfalls nicht in positivem Sinne).
Stadium 2: Konzentration auf Features
Ab dem Moment, in dem ein Konkurrent mit einem vergleichbaren Produkt auf den Plan tritt, haben die Kunden eine Wahl: Welches Produkt funktioniert besser? Welche Funktionen erfüllen die Bedürfnisse der Nutzer am besten?
In Stadium 2 spielen Features, also vergleichbare Eigenschaften, die entscheidende Rolle. Features können den Anschluss an die Konkurrenz herstellen, dank guter Features können Sie neue Territorien abstecken. In der Regel wird jedes Feature in eine Checkliste aufgenommen, anhand derer ein Produkt mit anderen verglichen werden kann.
Zu Beginn des zweiten Stadiums wissen die Kunden noch nicht genau, was sie wirklich brauchen, und neigen dazu, das Produkt zu bevorzugen, das mit der umfangreichsten Feature-Checkliste aufwartet. Erst später, wenn sie tatsächlich Erfahrungen mit den Produkten dieser Kategorie gesammelt haben, suchen sie nach spezifischen Eigenschaften. Die Besonderheit in diesem Stadium besteht darin, dass jede Verbesserung ausdrücklich und messbar sein muss.
„Einfach zu bedienen“ findet in solche Feature-Checklisten fast nie Eingang, obwohl man Usability sehr gut messen kann.
Entwicklung im zweiten Stadium: Die besten Features finden
Das bedeutet, dass es auch in diesem Stadium schwierig ist, die Usability-spezifische Verbesserungen vorzunehmen. Sicher könnte man ein solches Kriterium in die Checkliste aufnehmen, würde damit aber wahrscheinlich auf Widerstand stoßen.
Es gibt aber auch gute Nachrichten für Teams, deren Produkt sich im zweiten Stadium befindet: Beispielsweise sind Konkurrenzanalysen sehr hilfreich, wenn es um das Identifizieren neuer Möglichkeiten und fehlender Features geht. Werden Prototypen eingehend getestet, lässt sich aufdecken, ob neue Kunden bestimmte Features und Eigenschaften überhaupt wünschen.
Manchmal kann eine Funktionalität, die bereits Bestandteil eines Systems ist, mit wenig Aufwand zu einem neuen Feature werden. FedEx etwa verfolgte schon lange jedes Paket per Computer. Indem sie ihren Kunden direkten Zugriff auf die Tracking-Daten über eine übersichtliche und nutzerfreundliche Oberfläche ermöglichten, haben sie im Nu ein neues, wichtiges Feature geschaffen.
Im zweiten Teil des Artikels werden wir auf die beiden Stadien der Nutzererfahrung und des Masseneinsatzes eingehen.