Über mehr als sieben Jahren hinweg konnten wir beobachten, wie Projekt-Teams großartige Erlebnisse für Internetnutzer (User Experience) ermöglichen. Dabei sind uns unzählige Faktoren begegnet, die den Erfolg beeinflussen. Wir haben Management-Strukturen, Projektabläufe, Optimierungsverfahren und Recruiting-Prozesse untersucht und uns Kommunikationstechniken, Anforderungsanalysen, die Branchen der Kunden und die geographischen Standorte angesehen. Alles in allem sind uns über 250 verschiedene Faktoren in Dutzenden von Unternehmen und Organisationen aus den unterschiedlichsten Branchen und Sparten aufgefallen.
Wie so oft spielen die meisten dieser Einflüsse so gut wie keine Rolle. Trotzdem haben wir drei erfolgskritische Faktoren sondiert: die Vision, das Feedback und die Kultur. Mithilfe der passenden Fragen können wir die Fähigkeiten eines Teams schnell einschätzen. Ein Team, das gute Antworten hat, wird viel eher großartige Nutzererlebnisse schaffen als die anderen Truppen.
Faktor #1: Das Ziel der Vision verstehen
Hier die erste unserer Fragen:
„Weiß jeder im Team, was für ein Nutzererlebnis ein User in fünf Jahren mit uns haben wird?“
Die Antwort ist dann gut, wenn jedes Team-Mitglied sich ausmalen kann, wie User in fünf Jahren mit dem Unternehmen interagieren. Sie werden uns eine Geschichte erzählen – so geschehen im Falle einer hundert Jahre alten Versicherung:
„Ein versicherter Haus- und Autoeigentümer, dem gerade ein Baum auf die Garage gefallen ist, loggt sich in die Internetseite seines Versicherers ein, beschreibt den Schaden, lädt Fotos hoch, stellt einen Antrag und erhält eine erste Zusage für die vorläufigen Reparaturarbeiten sowie einen Leihwagen – alles innerhalb weniger Minuten. Im Verlauf von 24 Stunden liegen Einzelheiten der Inspektion und eine detaillierte Schadensbemessung vor; die Reparaturarbeiten laufen innerhalb von 48 Stunden an. Der Zahlungsverkehr wird vom Versicherer elektronisch abgewickelt, der Versicherte erhält die Rechnung über seinen Eigenanteil online.“
Diese kleine Geschichte ist eine Erlebnis-Vision. Sie umreißt, wie eine Person – hier also unser Geschädigter, der Haus und Auto beim selben Unternehmen versichert hat – den Schaden melden und schnell mit den Reparaturarbeiten beginnen kann. Wohlgemerkt beschreibt die Geschichte keine Spezifika des Designs oder des Systems – das ist uninteressant. Wichtig ist vielmehr, die Bedürfnisse des Versicherten zu verstehen.
Für einen Außenstehenden mag diese spezielle Story nun nicht sonderlich interessant oder spannend sein. Aus Sicht des Unternehmens aber entsteht ein radikales Gegenbild zur heutigen Situation. Derzeit sprechen die einzelnen Abteilungen nicht miteinander und alle tun so, als würden Kunden außerhalb ihrer individuellen Produkte gar nicht existieren. Diese ganzheitliche Vision zeigt eine drastische Wende und macht deutlich, wie die Frustration eliminiert werden kann, die die derzeitige Unternehmensrealität verursacht. Diese Firma gesteht sich fünf Jahre zu, die Vision umzusetzen und die substanziellen und grundlegenden strukturellen Änderungen aggressiv voranzutreiben.
Fünf Jahre vorauszuschauen ist ideal, denn dieser Zeitpunkt ist von den aktuellen Zuständen abgekoppelt. So können wir uns ganz unvoreingenommen ausmalen, wie eine tolle "Erfahrung" aussehen soll. Blickten wir dagegen nur ein Jahr voraus, kämen wir mit der momentanen Situation ins Gehege. Würden wir noch weiter in die Zukunft schauen, begäben wir wiederum schon ins Reich der Science Fiction.
Weil das Team eine Vision teilt, stehen alle auf derselben Seite und wissen, was für den Erfolg notwendig ist. Stellen Sie sich das als einen Stock vor, der am Horizont im Sand steckt. Jeder sieht den Stab und merkt, wann er sich in kleinen Schritten auf ihn zu oder auch von ihm weg bewegt. Auch der Stock ändert hin und wieder seine Position (und in einigen Unternehmen geschieht das häufig), aber das ist okay, denn alle sehen den Standortwechsel und können sich auf die neue Richtung einstellen.
Hinterherhinkende Teams haben keine befriedigenden Antworten auf diese Frage. Sie haben noch nie über die aktuelle Situation hinausgedacht oder jedes Mitglied hat eine andere Vision. An einer ganzheitlichen und gemeinsamen Vision zu arbeiten würde diesen Teams auf lange Sicht sehr helfen.
Faktor #2: Ein zuverlässiger Feedback-Mechanismus
Die erste Frage spielt darauf an, welchen Weg das Team einschlägt; bei der zweiten geht es darum, wo das Team herkommt:
„Hat jedes Team-Mitglied innerhalb der letzten sechs Wochen die Leute mindestens zwei Stunden lang beobachtet und gesehen, was sie für Erfahrungen mit unserem Produkt oder unserem Service machen?“
Gute Teams haben eine positive Antwort parat, ganz egal, wann wir diese Frage stellen. Sie schauen den Nutzern also regelmäßig zu und lernen von ihnen. Es gibt viele Möglichkeiten, die Nutzer zu beobachten (und in den besten Unternehmen ist die Spanne sehr weit). Ob bei User-Tests oder bei Feldstudien: Jedes Team-Mitglied sollte mindestens zwei Stunden mit der Beobachtung der Nutzer zubringen.
Wir sprechen nicht über Kurzumfragen oder Zufriedenheits-Polls. Diese Instrumente bringen oft ungenaue Ergebnisse und bilden nur kleine Teile des großen Ganzen ab. Bestenfalls erfahren wir, ob User frustriert oder entzückt sind; warum, erfahren wir nicht. Das Team muss den Usern tatsächlich zuschauen, detailliert und methodisch, um die für kritische Entscheidungen nötigen Informationen zu erhalten.
Sechs Wochen sind ein wichtiger Zeitraum. Nehmen wir an, dass ein Beteiligter an einem großen Projekt durchschnittlich 24 Monate mitwirkt. Während seiner Amtszeit beobachtet er also 16 unterschiedliche Erfahrungen. Vier Team-Mitglieder kommen in diesem Zeitraum auf 48 Beobachtungen! Nicht jede der so gewonnenen und sehr detaillierten Informationen ist nützlich, aber ihre Gesamtheit schafft eine gute Grundlage für weise Entscheidungen.
Nach mehr als sechs Wochen beginnt die Verbindung zum User zu bröckeln. Die Frage „Was ist eigentlich mit den Problemen, die Fred beim Zugriff auf verschiedene Dokumente hatte?“ bringt nicht viel, wenn Freds Erfahrung Monate zurückliegt.
In vielen hinterherhinkenden Teams hat noch nie jemand gesehen, welche Erfahrungen Nutzer mit dem Design oder dem System machen, obwohl mitunter Millionen von Leuten täglich mit der Applikation interagieren. In anderen Fällen arbeiten Teams nur mit Daten aus sekundären Quellen oder verfügen einfach nicht über ausreichende Budgets. Ist das der Fall, können die Projektbeteiligten nur über ihre eigenen Erfahrungen sprechen – und diese decken sich höchstwahrscheinlich nicht mit denen der realen User.
Faktor #3: Eine Kultur, die „Versagen“ mag
Die ersten beiden Fragen sind direkt und aus strategischer Sicht sinnvoll. Sie müssen wissen, in welche Richtung es geht und was Sie bereits geschafft haben. Der Sinn der letzten Frage nun mag sich zunächst vielleicht nicht intuitiv erschließen:
„Hat Ihr Abteilungsleiter innerhalb der letzten sechs Wochen eine Party veranstaltet, um ein aufgedecktes Problems zu feiern?“
In den meisten Unternehmen ist ein Problem nicht gerade ein Grund zum Feiern. Aber in einer Unternehmenskultur, die häufige kleine Änderungen und Fortschritte fördert, bergen Probleme Chancen zur Verbesserung. Teams, die eine gute Antwort geben können, haben eine Kultur etabliert, in der das Vorkommen von Fehlern nicht nur akzeptiert wird; vielmehr verstehen sie Fehler als Möglichkeiten, um mehr über die User und ihre Bedürfnisse zu lernen.
In einer großen Software-Firma gibt der Geschäftsführer regelmäßig Partys und verleiht einen Preis in Form eines echten Rettungsrings für das Schaffen von „Lernmöglichkeiten“ an Leute, die auf Fehler hingewiesen haben. Natürlich weiß der Chef, dass niemand absichtlich ein Problem produziert. Ist aber nun ein Fehler aufgetreten, lernt das Unternehmen eine wichtige Lektion, dies es voranbringt. Der Rettungsring ist in dieser Firma mittlerweile zu einer begehrten Auszeichnung geworden.
Ein Beispiel: Ein Technologie-Unternehmen hatte kürzlich mit einem massiven Server-Ausfall zu kämpfen, da Millionen von Usern gleichzeitig ihre Software auf ein neues High-End-Feature upgraden wollten. Der Ausfall war eine große und äußerst peinliche Panne (mit entsprechenden Reaktionen in der Presse und an der Wallstreet), aber ihr gingen ein erfolgreicher Entwicklungsprozess und eine tolle Marketing-Kampagne voraus, die in den Nutzern den heißen Wunsch nach der neuen Funktionalität erst geweckt hatte. Ungeachtet der temporären Krise hat das Unternehmen gelernt, wie es begehenswerte Erweiterungen entwickelt und kommuniziert, und zugleich erfahren, welche Auswirkungen dies auf die Infrastruktur hat – beides wichtige Erfahrungen, von denen die Firma in den nächsten Jahren profitieren wird.
Die besten Unternehmen halten diese Feiern regelmäßig ab, denn sie lernen kontinuierlich aus ihren Fehlern. Indem der Lernprozess durch den Problemhinweis und die Preisvergabe aktiv kommuniziert wird, entsteht eine Kultur der Fehlersuche. Wie heißt es so schön: „Was zur Kenntnis genommen wird, erledigt man, was belohnt wird, erledigt man gut.“
Hinterherhinkende Unternehmen feiern keine Probleme. Stattdessen bestrafen sie den „Angeklagten“ und kommen mit neuen Sicherheitsvorschriften zur Fehlervermeidung daher. Bald ist der Anlass für diese Vorschriften vergessen und das Unternehmen dazu verdammt, die gleichen Fehler wieder zu begehen.
Der Verbesserung entgegen
Das Nette an diesen drei Fragen ist ihr Beitrag zur konstanten Verbesserung. Teams können sich selbst einschätzen und nach Möglichkeiten für bessere Antworten suchen.
Ein gutes Team entwickelt vielleicht gerade eine Vision, hat diese aber noch nicht jedem Projektbeteiligten kommuniziert. Vielleicht bekommt das Team gelegentlich Feedback über Nutzererlebnisse, hat aber seit längerer Zeit keinen User beobachtet. Und es gibt immer Gelegenheiten, die zuletzt gelernten Dinge entsprechend würdigen, auch wenn der Lernprozess hart war.
Möglicherweise fördern weitere Untersuchungen andere Variablen zutage, die den Erfolg eines Teams beeinflussen. Aber fest steht, dass diese drei Faktoren tatsächlich erfolgskritisch sind und die Suche nach guten Antworten glücklicherweise kaum Nachteile hat. Deshalb sollten Unternehmen soviel wie irgend möglich in diese Kandidaten investieren.
-