Worauf es beim guten Kritisieren ankommt

Kritik einstecken zu müssen ist so ziemlich das Unangenehmste, was uns bei der Arbeit widerfahren kann. Jemanden zu kritisieren ist genauso schwierig. Es ist schwer, es richtig, und leicht, es falsch zu machen. In 20 Jahren Team-Arbeit haben wir ein Verständnis dafür entwickelt, was zu einer erfolgreichen Kritik gehört. Folgendes haben wir herausgefunden.

Was gutes Kritisieren ausmacht (und was nicht)

Grundsätzlich können wir sagen, dass eine Kritik dann erfolgreich war, wenn alle Beteiligten – der Entwickler oder Designer, der Kritiker und auch der Rest des Teams – etwas gelernt haben und besser geworden sind. Bei einer konstruktiven Kritik geht es weniger um Spezifika des Entwicklungsprozesses als darum, wie ein tolles Design geschaffen wird. Wir fangen mit dem bestehenden Entwurf an und fragen: „Was wollen wir hier wirklich erreichen?“ und „Wie nah sind wir dran?“

Kritisieren ist etwas anderes als das „Prüfen“ eines Entwurfs. Wenn wir prüfen, suchen wir nach all diesen Details wie Tippfehlern und Inkonsistenzen, die noch zur Perfektion fehlen. Prüfen ist wie Polieren, während es beim Kritisieren um Verstehen und um Verständigung geht.

Das Kritisieren unterscheidet sich auch von den gängigen Usability-Verfahren wie der Heuristischen Evaluation, dem Cognitive Walkthrough, der Guided Inspection und dem User-Test. Bei diesen Methoden betrachten wir das Design – wenn wir es richtig machen – aus Sicht des Users. Beim Kritisieren indes nehmen wir die Perspektive der Erfahrung ein und schauen durch die Augen eines weiteren Designers. Beide Perspektiven sind von unschätzbarem Wert für den Erfolg eines Entwurfs, aber man sollte sie nicht durcheinander bringen.

In erfolgreichen Teams hat jedes Mitglied irgendwann die Rolle des Kritikers inne. Manche Teams üben Kritik in regelmäßig anberaumten Sitzungen, bei anderen ist sie Teil des gesamten Entwicklungsprozesses. Wenn alle wissen, dass sie während des Projekts sowohl Kritik hinnehmen als auch üben müssen, tendieren sie dazu, sich stärker mit dem Gesamtziel zu identifizieren.

Die vier Elemente einer guten Kritik

Beim Beobachten von Teams sind uns einige Aspekte aufgefallen, auf die es wirklich ankommt. Die Teams, die vom Kritikprozess am stärksten profitieren, berücksichtigen vier Grundelemente: Respekt für die harte Arbeit und die Erfahrung, Unvoreingenommenheit, das Wissen, dass es dem Kritiker an Autorität mangelt, und Begründungen für Diskussionspunkte.

Element #1: Respekt
Im Optimalfall versteht und würdigt der Kritiker die harte Arbeit, die ein Designer in seinen Entwurf investiert hat. Er weiß, dass eine Menge Aufwand nötig war, um so weit zu kommen, und reflektiert das im Dialog.

Der Kritiker weiß auch, wie schwer sich jeder Designer, der einen Entwurf erarbeitet hat, mit dem Einstecken von Kritik tut. Es kommt also auf mehr als bloße Höflichkeit und Freundlichkeit an. Ein fähiger Kritiker versteht, dass der Kollege sich missverstanden fühlt, und bemüht sich, in ihm nicht das Gefühl des Angegriffen-Werdens aufkommen zu lassen, eine ganz natürliche Reaktion auf Kritik.

Respekt drückt sich in Feinheiten aus, etwa wenn nur dann kritisiert wird, wenn der Empfänger dafür bereit ist. Jeder, der schon einmal unversehens mit einer Kritik aus dem Hinterhalt überrumpelt wurde, weiß, dass das Überraschungsmoment die Empfänglichkeit für Hinweise und Kritik nicht gerade fördert.

Element #2: Unvoreingenommenheit
Wenn es gut läuft, kann das gesamte Team sich das Design „weiterdenken“. Der Designer versteht, dass über ihn nicht Gericht gehalten wird, und das Team sieht, was für eine lange Reise nötig war, um bis hierher zu gelangen. Der Kritisierende, der das Design in der aktuellen Version vor sich hat, nutzt die Kritik, um die verschiedenen Richtungen auszuloten, in die sich das Design entwickeln könnte. Davon kann jedes Teammitglied profitieren und seine Expertise und seine Fähigkeiten ausbauen.

Element #3: Fehlende Autorität
Der fähige Kritiker kennt die harte Wahrheit: Nichts, was er sagt, wird das Design zunächst in irgendeiner Weise ändern. Der Entwurf kann nur durch den Designer selbst geändert werden. Und dieser muss verstehen, worum es geht.

Die besten Kritiker geben niemals eine einzelne Empfehlung. Stattdessen stellen sie Fragen und führen die Diskussion. Sie sprechen über die Bedeutung der Design-Grundlage als Basis einer Philosophie und Vision.

Ein Beispiel. Anstatt zu sagen „Obwohl ich diese ausklappenden Menüs clever finde, empfehle ich, sie zum Teufel zu jagen und die Links in die Mitte der Seite zu setzen“, könnte der Kritisierende fragen: „Welche Alternativen hast Du denn für diese ausklappenden Menüs erwogen?“ Wenn die Konversation sich auf das große Ganze konzentriert, kann jeder beurteilen, inwiefern ein Element (wie unser aufklappendes Menü) zum Gesamterlebnis beiträgt.

Element #4: Begründete Ansichten und Bedenken
Bei einer guten Kritik konkurrieren zwei Themen miteinander: der positive Eindruck, den das Design auf den Kritisierenden macht, und die Bedenken hinsichtlich der Richtung, die der Entwurf einschlägt. So entsteht ein Gleichgewicht zwischen wenig angenehmer Kritik und der Würdigung toller Arbeit. In beiden Fällen geht die Kritik über ein simples Einzel-Statement hinaus – gute Begründungen verleihen einer Kritik Gewicht und senken die Akzeptanzschwelle.

Wir haben beobachtet, dass ein guter Kritiker nichts sagende Komplimente vermeidet (wie beispielsweise „Ich finde die Richtung gut, die Du eingeschlagen hast“ oder noch schlimmere Halbkomplimente wie „Ich find’s gut, aber ...“) Stattdessen teilt er seine Gedanken offen mit und erklärt ausführlich und begründet, was ihm gefällt und inwiefern es die gewünschte Richtung des Designs unterstützt. Diese Details geben dem Designer nicht nur das Gefühl, dass seine Arbeit anerkannt wird, sondern sie koppeln die Vision und die Philosophie unmittelbar an das Design selbst.

Immer wieder sehen wir, dass Kritiker sachlich bleiben und gut vorbereitet sind, wenn es um das seriöse Begründen von Bedenken und das Aufzeigen von Alternativen geht. So kann das Team diese Begründungen diskutieren, anstatt sich in Kleinkriegen um guten Geschmack zu verzetteln. Beim Vergleich von Design-Alternativen richtet das Team den Blick aufs Wesentliche. Zwar bestimmen Sachzwänge viele Projektabläufe, aber der Blick auf grundsätzliche Konzepte erlaubt dem Designer und den Teammitgliedern, in Zukunft bessere Entscheidungen zu treffen.

Fragen, die sich der gepflegte Kritiker stellen sollte

Denken Sie jetzt darüber nach, Ihre Fähigkeiten als Kritiker zu verbessern? Hier noch eine weitere Möglichkeit. Stellen Sie sich einfach folgende Fragen, wenn Sie jemanden kritisieren: Was hat mir an dem Design gefallen und warum? Was stört mich und warum? Was verbinde ich mit dem Vorschlag und warum?

Im Idealfall stellen Sie ein Gleichgewicht her und achten darauf, dass sich positives Feedback und kritische Anmerkungen die Waage halten. (Einige alte Hasen haben uns in Interviews erzählt, dass sie jeden Kritikpunkt sogar mit zwei positiven Anmerkungen ausgleichen.)

Erfahrene Kritiker priorisieren ihre Anmerkungen und geben die kritischsten Kommentare zuerst ab – und jeder Punkt regt die Diskussion weiter an. „Hast Du bedacht …“ ist eine tolle Einstiegsmöglichkeit in eine wichtige Kritik, denn sie eröffnet dem Designer die Möglichkeit, zu sagen: „Ja, aber ich habe mich aus diesem und jenem Grund anders entschieden.“ Nun kann das Team sich über diese Begründung und damit über die wesentlichen Angelegenheiten unterhalten, anstatt Erbenzählerei im Detail zu betreiben.

Kritik im sicheren Umfeld trainieren

Als wir uns mit Teams unterhalten haben, hat sich ein weiteres Muster herauskristallisiert: Die Teams, die aus Kritik offenbar den meisten Nutzen ziehen, steuern und trainieren Kritik auch intensiv. Insbesondere regelmäßig anberaumte Sitzungen, in denen das Team sich jedes Mal mit einem oder zwei Designs auseinandersetzt, haben einige interessante Vorteile.

Uns ist aufgefallen, dass die Fähigkeit zum Krisieren mit jeder Wiederholung besser wird. Jedes Mal, wenn ein Team-Mitglied eine seriöse und ernsthafte Kritik vorträgt, wachsen seine Kompetenzen. Und das turnusmäßige Platznehmen auf dem heißen Stuhl des Designers trägt wesentlich zum Auf- und Ausbau der eigenen Kritikfähigkeit bei.

Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das Team die Entwicklung eines Designs verfolgen kann. Spätere Kritik fußt auf besserem Hintergrundwissen hinsichtlich der Ziele und der Geschichte, die zeigt, welche Entwicklung das Design und auch der Designer im Prozessverlauf genommen haben.

Gutes Kritisieren

Das Üben von Kritik ist ein essenzieller Teil des Entwicklungsprozesses. Leider sind nicht viele Usability-Profis darin geschult. Wie so oft ist es leicht, etwas schlecht, und schwer, etwas gut zu machen. Wenn Sie Ihre Kompetenzen in Sachen Kritik verbessern, werden Sie einerseits noch wertvoller für das Design-Team und lernen andererseits viel über die Entwicklung toller Designs.

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Dieser Artikel wurde im Original am 23. September 2008 unter dem Titel „What Goes into a Well-Done Critique“ von Jared M. Spool veröffentlicht. Jared M. Spool gehört zu den führenden Usability-Experten unserer Zeit. Seine Website erreichen Sie unter http://www.uie.com/. Weitere Artikel von Jared M. Spool finden Sie im Usability-Special von //SEIBERT/MEDIA.

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